ARD-Themenwoche 2018 "Gerechtigkeit" "Stell dir vor, du wärst an seiner Stelle"
Gerechtigkeit und Chancengleichheit in unserer Gesellschaft – darum geht es in der ARD-Themenwoche vom 11. bis 17. November. "Wieviel soll man Bettlern geben?", fragt Philipp Engel im hr-fernsehen. Und hr.de fragt ihn: Was ist gerecht?
Alle reden von Gerechtigkeit. Im Alltag bemerkt man jedoch eher Ungerechtigkeiten. Wo im Alltag begegnet Ihnen Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit?
Philipp Engel: (lacht) Die kleinen Ungerechtigkeiten fangen schon morgens an, wenn ich merke, dass meine Frau Spätdienst hat und ausschlafen kann, während ich aufstehen muss, um die Kinder zu wecken. Aber das gleicht sich ja an anderen Tagen wieder aus. Mal im Ernst: Wirklich aufregen kann ich mich über soziale Ungerechtigkeit und zwar deshalb, weil man das ändern könnte. Beispielsweise wenn Leute vierzig Stunden arbeiten und von dem Geld nicht wirklich leben können oder wenn sie sich in einer Stadt wie Frankfurt keine Wohnung mehr leisten können. Das finde ich ungerecht. Oder, dass der Bildungserfolg von Kindern in Deutschland immer noch extrem vom Bildungsstand ihrer Eltern abhängig ist.
Gefährdet Ungerechtigkeit den Zusammenhalt unserer Gesellschaft? Und wer ist für Gerechtigkeit zuständig: die Politik, die Justiz oder jeder einzelne?
Philipp Engel: Unbedingt, vor allem wenn die soziale Ungerechtigkeit zu groß wird, ist das ein riesen Problem und gefährdet den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Alle sind dafür zuständig und zwar jeder für seinen Bereich. Es gibt nicht die eine Institution die für Gerechtigkeit zuständig ist.
Wann haben Sie sich zuletzt ungerecht behandelt gefühlt?
Philipp Engel: Über diese Frage muss ich länger nachdenken, aber ich glaube, gestern beim Gemüsestand. Jemand hat sich vorgedrängelt und ist auch noch drangekommen (lacht). Grundsätzlich habe ich persönlich für mich beschlossen, mich nicht mehr permanent mit anderen zu vergleichen, denn ich denke, dass die "Vergleicherei" auf direktem Weg in die Unzufriedenheit führt. Es wird immer jemanden geben, der musikalischer, schöner, reicher, sportlicher oder sonst was ist – wenn ich mich permanent vergleiche, werde ich unglücklich und unzufrieden.
Am 14. November läuft Ihre Sendung "Engel fragt: Wie viel soll ich Bettlern geben?" im hr-fernsehen als ein Beitrag der ARD-Themenwoche "Gerechtigkeit". Welchen Bedürftigen würden Sie etwas geben und warum?
Philipp Engel: Mit der Frage tue ich mich schwer. Was ich durch die Sendung gelernt habe: dass man nicht allen helfen kann. Ich kann auch nicht immer sehen ob und wie bedürftig ein Mensch wirklich ist. Wichtig ist es, trotzdem zu helfen und das nicht als Ausrede zu nehmen. Bei der Entscheidung, ob ich etwas geben will, kann es helfen, mit den Menschen zu reden. Das ist etwas in meinem Leben, was ich vor der Sendung noch nicht gemacht habe. Die Leute anzusprechen und sie zu fragen warum sie hier sitzen, wie es ihnen geht und warum sie nicht arbeiten. Einem habe ich nichts gegeben, weil mich die Antwort nicht überzeugt hat, dem anderen habe ich etwas gegeben. Ansprechen hilft.
Heißt Gerechtigkeit immer, dass jeder das Gleiche bekommt?
Philipp Engel: Gerechtigkeit ist kein absoluter Wert, das ist illusorisch. Zum Beispiel sehe ich jeden Morgen, wie körperbehinderte Schüler aus dem Bus geholt werden, um in die Schule zu kommen. Ist das gerecht, wenn ein Kind im Rollstuhl sitzt? Nein, es ist nicht gerecht. Ein Freund von mir ist mit 47 Jahren gestorben – ist das gerecht? Nein. Aber es gibt tatsächlich Dinge, die menschgemacht ungerecht sind und die müssen nicht sein. Die absolute Gerechtigkeit kann es aber nicht geben, und manches ist eben auch einfach Schicksal.
Kann man Gerechtigkeit lernen?
Philipp Engel: Ich glaube schon, dass Eltern ihren Kindern das vorleben können. Auch, indem sie ihre Kinder gerecht behandeln, und zwar nicht in dem Sinn, dass immer alle zu jeder Zeit das Gleiche bekommen, das macht keinen Sinn. Denn manchmal braucht das eine Kind eben mehr Aufmerksamkeit als das andere. Oder es braucht einen Pulli und das andere nicht. Aber unterm Strich sollten Kinder nicht das Gefühl haben, der/die eine wird bevorzugt. Und dann, ganz wichtig, indem man Empathie schult. Denn ich glaube, um Ungerechtigkeit erkennen zu können, müssen wir erst einmal die Fähigkeit erlangen, andere in ihrem Sein oder ihrer sozialen Lage wahrzunehmen. Dafür brauchen wir Empathie und das können wir schon Kindern beibringen, indem wir sie zum Beispiel auffordern: Stell dir vor, du wärst an seiner/ihrer Stelle, wie würdest du dich fühlen? Das habe ich mit meinen Kindern gemacht, als sie noch klein waren.